Rede am 9. November 2021 in Moabit

Liebe Freunde, liebe Kameraden der VVN, meine Damen und Herren,

Ich freue mich sehr, dass Sie heute nach 83 Jahren an unserer Gedenkveranstaltung teilnehmen. Ja, ich danke Ihnen sehr und ich freue mich darüber, dass Sie nicht wie Millionen anderer den Mauerfall feiern. Unser Gedenktag, der 9. November 1938, dieses deutsche Scham- und Schanddatum, sollte über den Jubeltag vergessen gemacht werden. Aber wir wollen und werden diese Novembertage von 1938 nicht vergessen und weiter darüber berichten, wie Ihre Groß- und Urgroßeltern die Juden ausgeplündert, bestohlen und beraubt haben, wie die Juden von diesen Generationen der Deutschen gepeinigt, vergewaltigt, inhaftiert, verschleppt und ermordet wurden.

Bereits am Abend des 7. Novembers wurden die Synagogen und andere jüdische Einrichtungen in Hessen verwüstet. Der 9. November 1938 war für die SA ein bedeutender Tag. Es war der 15. Jahrestag des Hitler-Putsches von 1923, der gefeiert wurde mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle in München, ein schauriges Szenario mit Blutfahnen, Fackelzug und Kameradschaftsabenden. Es feierten SA-Gruppen, Brigaden, Standarten, Stürme und Trupps. Rund zwei Millionen SA-Leute saßen in ihren Sturmlokalen, der Alkohol floss in Strömen.

Wann versammeln sich schon mal zwei Millionen durch die Feier aufgeputschte, angetrunkene und nach Heldentaten dürstende SA-Leute? Der Tag war reif für die Juden-Pogrome. Josef Goebbels putschte gegen die Juden und zehn Millionen Radiohörer konnten mit den Volksempfängern dabei sein.

Die Stimmungslage war angespannt und aggressiv. Und in dieser Situation gaben die Hauptführer der SA ihren Gauleitungen telefonisch die Anweisung, gegen die Juden vorzugehen. Der Befehl lautete: „Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort durch SA-Männer in Uniform zu zerstören … Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sind sie sofort über den Haufen zu schießen.“

Der Chef der geheimen Staatspolizei, Heinrich Müller, gab um 23.55 Uhr an alle nachgeordneten Dienststellen ein Blitzfernschreiben durch: „Es werden in kürzester Frist Aktionen gegen Juden und Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Es ist vorzubereiten, die Festnahme von 20 bis 30.000 vorwiegend vermögender Juden.“

Dann begann der Terror in ganz Deutschland gegen die Juden. Die betroffenen Familien saßen am Morgen des 10. Novembers in ihren zerstörten Wohnungen und ohne eine Kaffeetasse, einen Löffel, oder ein Teller, nichts mehr. Vorgefundene Geldbeträge wurden konfisziert, Wertpapiere und Sparkassenbücher mitgenommen. Die Wohnungseinrichtungen wurden zerschlagen und zerstückelt, Gemälde und Teppiche mit dem Dolch zerschnitten, Wohnungsgegenstände landeten durch die Fenster auf der Straße. Das Schlimmste aber dabei waren die schweren Ausschreitungen gegen die Wohnungsinhaber, wobei anwesende Frauen ebenso misshandelt wurden wie die Männer. Hinzu kam eine unbekannte Zahl von Vergewaltigungen jüdischer Frauen und Mädchen.

Und es gab Tote.

1.300 Juden haben diese Tage nicht überlebt. Etwa 30.000 sind in die KZs eingeliefert worden. Die Lagerhaft kostete nochmals Hunderte Menschenleben. Im KZ Buchenwald fanden nach Angaben der Lagerverwaltung 307 Juden, in Dachau 185 den Tod. Die Opferzahl von Sachsenhausen ist nicht bekannt. Bei diesen Zahlen wird eine hohe Dunkelziffer angenommen, denn bereits bei der Ankunft in den KZs wurden Dutzende Juden erschossen, Hunderte starben bei Fluchtversuchen oder an den Strapazen der Zwangsarbeit. Tausende Überlebende wurden schwer verletzt und seelisch traumatisiert. Allein im Jüdischen Krankenhaus in Berlin mussten nach dem Winter 1938/39 bei 600 der entlassenen KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen erfrorene Gliedmaßen amputiert werden.

Das Ergebnis dieser Nacht: 1.406 vollständig zerstörte Synagogen und Betstuben in ganz Deutschland. Von Berlins 14 Synagogen wurden 11 vollständig niedergebrannt, die übrigen drei schwer demoliert. Zerstört wurden etwa 7.500 jüdische Geschäfte und Wohnungen. Fürchterlich wüteten die Nazis. Und immer mehr Bürger beteiligten sich an den Ausschreitungen. Es waren nicht nur SA-Leute und Hitlerjungen, sondern es war der Milchmann von nebenan, der die Juden schlug, es war der Nachbarjunge aus dem vierten Stock, der mit seinem Fahrtenmesser die Teppiche und Gemälde zerschnitt und es war der Oberlehrer mit dem Hitler-Bärtchen, der sich Ringe und Uhren einsteckte. Allein in einem Juweliergeschäft in der Prachtstraße Unter den Linden wurden Juwelen und Uhren im Gesamtwert von 1,5 Millionen Reichsmark geraubt. Schmuck und wertvolle Pelze gehörten zum bevorzugten Diebesgut. Auch heute noch wird kostbarer Schmuck angeboten, der angeblich schon lange Zeit im Familienbesitz war. Ja, 83 Jahre sind schon eine lange Zeit.

Die November-Pogrome waren nicht das Werk einzelner SA-Leute. Diese Pogrome waren das Resultat eines Zusammenspiels von Massenloyalität mit einer verbrecherischen Diktatur, mit wütendem Rassismus und barbarischem Antisemitismus der deutschen Gesellschaft.

Nie wird restlos zu klären sein, wie Millionen einzelner Menschen in diesen Sog geraten konnten, wie für Millionen Schweigen zum Mitwissen und Mitwissen schließlich zum Mitmachen werden konnte. Wie konnte es geschehen, dass über 95 Prozent der deutschen Bevölkerung, Männer, Frauen und Heranwachsende sich aktiv an dieser Brutalität beteiligten oder tatenlos zuschauten? Und zu all dieser Schmach und Schande kam noch dieser vielfache kleine tägliche Verrat: Freunde, die keine mehr waren, Nachbarn, die wegsahen, wenn man sich begegnete.

Historiker ordnen diese Novembertage so ein, dass nur im finstersten Mittelalter und im 30-jährigen Krieg solche vergleichbaren brutalen Grausamkeiten und Gräueltaten nachweisbar gewesen waren.

War Deutschland noch ein zivilisiertes Land?

Am 12. November hielt Hermann Göring eine Konferenz ab. Für die brutalen Pogrome der deutschen Gesellschaft wurden folgende Sühnemaßnahmen gegen die Juden verhängt: Die Konferenz stimmte mehreren Gesetzen und Verordnungen zu, außerdem wurde den Juden generell der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten und sonstigen kulturellen und sportlichen Veranstaltungen verboten. Weitere Beschränkungen und Aufenthaltsverbote wurden für Juden erlassen. Kurorte und Waldgebiete waren jetzt für Juden verboten. Als Sühneleistung wurde den Juden eine Zahlung von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Als Leiter der Konferenz warf Hermann Göring seinem Parteigenossen Reinhold Heydrich vor: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet noch 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“ Er beendete die Konferenz mit den zusammenfassenden Worten, die wie eine Weissagung und eine Drohung klangen: „Ich möchte kein Jude in Deutschland sein.“

Ab den Novemberpogromen 1938 war das Leben der deutschen Juden zur Hölle geworden. Der Raubstaat Deutschland organisierte den Staatsraub und viele Juden glaubten, schlimmer könnte es nicht kommen, die Brutalität wäre nicht mehr zu steigern. Doch sie wurden eines Schlimmeren belehrt. Die November-Pogrome waren die Katastrophe vor der Katastrophe. Sie markierten den Übergang von der täglichen Diskriminierung und Drangsalierung der Juden seit 1933 zur systematischen Ermordung der Juden in ganz Europa. Der 9. November 1938, die sogenannte Reichskristallnacht, bildete den Scheidepunkt des Wegs zur Endlösung der Judenfrage, zum millionenfachen Mord der Juden in ganz Europa.

Und deshalb dürfen wir diese Tage nicht – wie die deutsche Geschichtsschreibung es will – in die Bedeutungslosigkeit versinken lassen. Wir werden uns dieser Tage im November1938 immer wieder neu erinnern und niemals vergessen.

Das war es, was ich Ihnen heute sagen wollte. Und deshalb denken Sie immer daran:
 Faschismus ist keine Meinung.
 Faschismus ist ein Verbrechen.

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