Zeitzeugengespräch im Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn

Am 27. Januar 2020 hatten wir Schülerinnen und Schüler der achten, elften und zwölften Klasse die Ehre, an einem Zeitzeugengespräch mit Herrn Horst Selbiger teilzunehmen zu dürfen.
Das Gespräch wurde von Horst Selbiger, einem Überlebenden des NS Regimes, geleitet.
Vorerst erzählte uns Herr Selbiger etwas über sich, dass er 1928 geboren sei, er ist somit 92 Jahre alt (bis 120). Als Jugendlicher besuchte er unsere Schule. Leider musste er als Kind in seiner deutschen bzw. staatlichen Schule, die er zuvor besuchte, antisemitische Angriffe erfahren. Beleidigung, er wurde bespuckt und erfuhr sogar Schläge von seinen Mitschülern.
Da die Nazis immer mehr an Macht gewannen, durften die Schüler, die die jüdische Schule damals besuchten, ihre Schullaufbahn nur noch zur anerkannten Mittelschule abschließen. Die Schüler, die zuvor an die Schule kamen, durften noch einen gymnasialen Abschluss erhalten, die Zugänge nach 1938 jedoch nicht mehr. Sie galten als Mittelschüler.
Anschließend gab er uns einen kleinen Überblick über einige historische Ereignisse.
Juden mussten mit dem gelben Stern, genauso wie Horst Selbiger, tagtäglich herumlaufen. Sie bekamen Lebensmittelkarten mit einem J gekennzeichnet. Sie durften keine Schokolade, kein Fleisch, kein Obst, fast gar nicht zu sich nehmen und im Laden bekommen. Das Einzige was es gab, waren Kartoffeln. Horst Selbiger war es ein Rätsel, wie seine Mutter ihn und seine Geschwister in dieser schweren Zeit ernähren konnte.
Dann erzählte er uns etwas über das Lager Auschwitz, indem er selbst nicht inhaftiert war. Es war doch sehr interessant, einen Bericht von jemandem zu hören, der zur damaligen Zeit lebte. Seine Wahrnehmungen sind nicht mit den unsrigen vergleichbar. Er sprach über schreckliche grausame Verbrechen, die den Juden und anderen verfolgten Menschen angetan wurden. Auch darüber, dass am letzten Tag vor der Befreiung noch tausende Menschen ihr Leben lassen mussten.
Dann berichtete er auch über die ersten Konzentrationslager in Deutschland, wie sie geschaffen wurden. Sie sollten immer größer werden, es wurden immer mehr Pläne für An- und Zubau erstellt. Explizit sprach er über den Anbau neuer Brennöfen. Es kamen immer mehr Brennöfen hinzu, um menschliche Leichname zu verbrennen. Selbstverständlich erwähnte er auch die anschließende Befreiung, zu der ich später kommen werde.
Herr Selbiger, der jüdisch erzogen wurde, galt als sogenannter Volljude, obwohl seine Mutter vor der Hochzeit mit seinem Vater zum jüdischen Glauben konvertierte. Die schönen Jahre im jüdischen schulischen Umfeld wurden Herrn Selbiger durch die Nazis genommen. Er konnte sich dort ein erstes Mal geborgen fühlen. Bei Kriegsbeginn musste er Zwangsarbeit leisten. Er wurde in ein Arbeitslager, in eine Fabrik verschleppt, wo er in großen Chemietanks Flugzeug- und Fahrzeugteile entfetten musste. Er sprach nicht viel darüber, weil die Arbeit nicht nur körperliche sondern auch seelische Narben hinterlassen hatte. So berichtete er uns von den Plünderungen und dem Boykott von jüdischen Geschäften, all das hat ihn zeichnet. Dieses könnte er niemals vergessen. Der Vortrag von Herrn Selbiger ging uns allen sehr ans Herz und nahm uns mit. Es sollte aber noch trauriger werden, als er uns von Verlust seiner Verwandten berichtete. Die älteste Person seiner Familie, die im KZ ermordet wurde, war seine Großtante, die 86 Jahre alt wurde. Der Jüngste war ein Verwandter, dem man sein Leben brutal im Alter von nur sechs Monaten nahm.
Hinzu kam noch der Verlust seines besten Freundes. Sein bester Freund stürzte, bei der von Nazis aufgetragener Zwangsarbeit, durch ein Dach und starb. Diesem Schock, wie er sagte, könne er niemals vergessen und habe tiefe Narben hinterlassen. In diesem Moment glaube ich, würde auch der letzte Mensch verstehen, der keine persönliche Erfahrung mit dem Holocaust hatte, die Geschichte nicht richtig kennt o.ä., wie schrecklich die Juden und andere Verfolgte leiden mussten. Einen Menschen zu hören, der 61 Familienmitglieder im Zweiten Weltkrieg durch die mörderischen Hände der Nationalsozialisten verlor, war ein wirklich herzzerreißender Moment. Die schmerzhaften Details blieben uns aber verborgen. Herr Selbiger hatte uns das Gefühl gegeben, dass er mit Trauer und Aufklärung gut umgehen kann, ein wirklich starker Mensch, nach diesen grausamen Vorkommnissen. Man musste wirklich tief einatmen.
Später kam in seinen Berichten eine gewisse Freude hinzu. Zu Kriegsende konnte er von den Bomben, die von den Alliierten auf Deutschland flogen, gar nicht genug bekommen. Es war das Schönste für ihn zu hören, dass Deutschland vor der Kapitulation steht.
Er sprach auch über seine Zeit nach dem Krieg. Deutschland hatte seiner Meinung die Entnazifizierung nichts gebracht, Konrad Adenauer schaffte sogar die Gesetze zur Entnazifizierung ab. Leute in höheren Posten waren immer noch Nazis, Kanzler Kiesinger war ehemaliges Mitglied der NSDAP, um einige zu nennen. Deshalb ging er nach dem Krieg in die DDR, für ihn eine gewisse Flucht vor den Nazis. Ein schöner Satz, den Herr Selbiger sagte war, das die schlimmsten Nazis von heute auf morgen zu dem bravsten Demokraten wurden. Demokratie und Aufklärung spielten für Herrn Selbiger die größte Rolle. In der DDR konnte er sein Abitur nachholen, was ihn stets beschäftigte. Dort konnte er auch seinen Traum wahr werden lassen, er wurde Journalist.
Nach diesen historischen Hintergründen und Erfahrungsbericht, legten wir erstmal eine zehnminütige Pause ein. Diese konnten alle gut gebrauchen, unsere Gesichter waren erschrocken, gerötet, die Körper ermattet und unsere mit Tränen gefüllten Augen glänzten.
Nachdem sich alle wieder etwas zu sich kamen, ging es zur Fragerunde mit Herrn Selbiger. Herr Selbiger strahlt mit 92 Jahren eine große Weisheit, großartige Persönlichkeit aus und hat ein enormes Wissen. Ich fragte ihn, ob angesichts unserer Situation in Deutschland dem Erstarken rechter nationalsozialistischer und faschistischer Parteien, so etwas wie der Zweite Weltkrieg noch mal denkbar wäre. Er sagte, dass dies leichte Satire sei, den Zweiten Weltkrieg noch mal aufleben zu lassen. Dieser war gewesen und wiederholen würde er sich seiner Meinung nicht. Es wird immer ein Kampf zwischen Faschisten und Demokraten geben. Aus seinem Gespräch ging auch hervor, dass der Faschismus vielleicht noch einmal stärker werden könnte. Auf keinen Fall, aber denkt er, könnte er Überhand gewinnen, die Menschen werden Einsicht haben und die Demokratie wird siegen. Er sagte, dass er so denkt, selbstverständlich kann er für nichts garantieren. Gleichzeitig fragte ich nach, was wir tun sollen. Als gute Demokraten muss man gegen Antisemitismus, Faschismus und das Ausgrenzen von anderen jeder Art kämpfen. Man soll aktiv sein, dazwischen gehen, wenn man Ungerechtigkeiten wahrnimmt, nicht stumm sein, laut seine Meinung äußern. Mit unserer Stimme können wir so einiges bewegen. Herr Selbiger wurde von den SchülerInnen noch einige Rückfragen zum historischen Kontext gestellt. Eine weitere interessante Frage an Herrn Selbiger war, ob er persönlich jemals dem Gedanken spielte, Deutschland zu verlassen. Daraufhin erklärte er, dass es sein größter Traum es war, Journalist zu werden. Er hatte von einem Auswanderer gehört, der in der NS-Zeit aus dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina nach Deutschland zurückkehrte. Dieser sagte, dass er in Amerika im täglichen Leben mit tausend Worten durchkäme, aber niemals in englischer Sprache einen Artikel schreiben könnte, wie er es wolle. In der eigenen Muttersprache zu schreiben ist für einen Journalisten von Bedeutung. So ein Schicksal wollte Horst Selbiger nicht. Er sagte uns, dass er in unserer Schule damals eine wunderbare Deutschlehrerin hatte, klopfte dabei energisch auf den Tisch, das erfüllte uns alle mit Freude und sagte, dass die deutsche Sprache so viele Facetten hätte und er sich seinen Traum nicht nehmen lassen wollte. Außerdem war die Ausreise aus Deutschland zu diesem Zeitpunkt extrem schwierig. Man konnte entweder illegal nach Palästina einreisen oder nach Amerika. In Amerika brauchte man aber eine Person, die für einen bürgte, die sich dazu bereit erklärte, für einen zu sorgen, wenn man nicht sich selbst versorgen könnte.
Ziel der Nazis war es ja, Deutschland judenfrei zu machen. Dem setzte er sich entgegen, er überlebte, trotz seines Judensterns, mit gekennzeichneten Lebensmittelkarten. Am Ende des Krieges war Hitler tot und er war die ganze Zeit ein Jude in Deutschland. Er sagte uns mit einem Lächeln, dass das eine tolle Chuzpe sei. Mit diesem Satz beendete die Fragerunde, er ist bezeichnend für ihn. Ein toller Mensch, der sich für den Antifaschismus engagiert mit 92 Jahren und seine Erfahrungen bis heute teilt.
Ich hatte mich abschließend noch kurz mit Herrn Selbiger unterhalten und bedankt und ihn um Erlaubnis gebeten, diese Veranstaltung in unserer Schülerzeitung veröffentlichen zu dürfen. Herr Selbiger hat diesen Artikel vorab gelesen und redigiert. Abschließend sagte ich ihm, dass ich mit seiner Geschichte und seinen Gedanken in den Ferien nach Israel fahre. Diese Geschichte habe ich mitgenommen und auch einigen Menschen dort erzählt. Alle waren beeindruckt und wünschen ihm viel Kraft bei seiner Aufklärungsarbeit.
Besten Dank, Herr Selbiger, bis 120!!! Bis zum nächsten Mal an Ihrem/unserem JGMM!!!

Das Zeitzeugengespräch wurde von der Deutschlehrerin Frau Stumpf am Projekttag zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren und Opfer des Holocaust organisiert. Unser Dank an dieser Stelle an Frau Stumpf. Gleichzeitig danken wir unserem Lehrer Herrn Hehlke, der uns Schülerinnen und Schülerin des Leistungskurses der Q2 die Erlaubnis gab, auch an dieser Veranstaltung teilnehmen zu dürfen.
2020 Pessach-Ausgabe der Schülerzeitung