Von den Klassen 8/9 der Heinz-Neukäter-Schule und 10. Klasse Pestalozzischule
Ausgrenzung, Diskriminierung und Todesangst – all das hat Horst Selbiger erlebt. Den Schülern gab er eine besondere Botschaft auf den Weg.
Von Varel nach Berlin und zurück. Drei Tage Studienfahrt mit vielfältigem Programm standen vor uns. Unter anderem haben wir die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen besucht sowie an einer Führung mit Gespräch am Denkmal für die ermordeten europäischen Juden teilgenommen. Höhepunkt dieser Fahrt war aber das Gespräch mit einem Zeitzeugen der Judenverfolgung.
Worte, die schocken
„Für die anderen Schüler war ich die Judensau, die beleidigt, angespuckt und getreten werden konnte.“ Wir, die Klassen 10H der Pestalozzischule und die Klassenstufe 8/9 der Heinz-Neukäter-Schule, sitzen im Jüdischen Gemeindehaus an der Fasanenstraße in Berlin und sind geschockt und gleichzeitig tief beeindruckt, denn vor uns erzählt Horst Selbiger, ein 91-jähriger Zeitzeuge der Judenverfolgung, seine Lebensgeschichte, die 1928 begann und auch heute noch lange nicht zu Ende ist. „Ich trainiere auf die 120“, sagt er in einem lockeren Gesprächston, nachdem wir nach seinem Alter gefragt haben und ganz überrascht sind, dass er schon so alt ist.
„Keiner hielt damals zu mir“, berichtet er und führt weiter aus, dass er die Schule wechseln musste. Er kam auf eine jüdische Schule und fühlt sich dort wesentlich besser. Die Judenschule wurde aber 1942 geschlossen, dies bedeutete für ihn Zwangsarbeit. Er musste in einer Fabrik mit giftigen Substanzen Flugzeugteile entfetten.
Horst Selbiger stammt aus einer sehr großen, weit verzweigten jüdischen Familie, die schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Westpreußen nach Berlin übergesiedelt war. Als Kind wurde Horst Selbiger jüdisch erzogen, obwohl seine Mutter keine Jüdin war.
1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht und veränderten innerhalb von kurzer Zeit die Demokratie in eine Schreckensherrschaft, in der Horst Selbiger sehr leiden musste. Nach seiner Einschulung 1934, nur ein Jahr nach der Machtergreifung durch die Nazis, verschärften sich für den damals Sechsjährigen die Erfahrungen mit einer zunehmend antisemitisch geprägten Umwelt.
Sinnlose Verbote
Er berichtet uns von den ganzen Gesetzen, die nicht nur sein Leben eingeschränkt und verändert haben. Sein jüdischer Vater durfte nicht mehr als Zahnarzt arbeiten, er konnte nicht mehr ins Schwimmbad und in die Bibliothek gehen und auch das Fahrradfahren wurde ihm verboten. Hunderte Gesetze und Verordnungen schränkten sein junges Leben ein. Mit 10 Jahren erlebte er im November 1938 die schrecklichen Übergriffe der Nazis gegenüber jüdischen Geschäften, Menschen und Synagogen. Das Jüdische Gemeindehaus steht heute genau dort, wo die große jüdische Synagoge stand.
1943 bekam Horst Selbiger den Befehl zum Abtransport ins Vernichtungslager Auschwitz, aber seine nichtjüdische, Mutter demonstrierte mit anderen Frauen lautstark gegen diese Anordnungen. Nach dem berühmt gewordenen Aufstand in der Rosenstraße, bei dem hunderte Ehefrauen gegen die Verhaftung ihrer jüdischen Männer protestiert hatten, wurde er in eine Sammelstelle transportiert und traf seinen ebenfalls verhafteten Vater wieder. So blieb er mit ihm und anderen Juden bis zum Kriegsende in Berlin und wurde weiter zur Zwangsarbeit gezwungen.
Die ganze Zeit war es für ihn ein Kampf auf Leben und Tod. Vielleicht war der Entschluss, das Boxen im Alter von acht Jahren zu erlernen, eine gute Entscheidung, denn auch nach dem 2. Weltkrieg war für ihn seine Leidenszeit und sein Kampf gegen die Ungerechtigkeit nicht zu Ende.
Familienmitglieder tot
Bis heute hat sich niemand persönlich bei ihm für die unmenschliche und grausame Zeit entschuldigt. 61 Mitglieder seiner großen Familie seien ermordet worden. Trotzdem zeigt er uns in diesem Gespräch seinen Mut und seine Kraft und betont zum Schluss, dass die Freiheit sehr wichtig für unser Leben ist. Dafür sollen wir kämpfen, jede Stunde und jeden Tag. Wir konnten in seinen Worten die Angst vor der Zukunft hören. Seine ganze Lebensgeschichte hat er in seinem Buch „Verfemt-Verfolgt-Verraten“ aufgeschrieben.
Nach fast zwei Stunden bedanken wir uns bei ihm und wünschen ihm alles Gute. Wir verlassen das jüdische Gotteshaus mit vielen Erfahrungen und Gefühlen, die noch lange nachwirken. Horst Selbiger steigt in sein Auto und fährt nach Hause. Wir schauen ihm hinterher und finden, dass ein Zeitzeugengespräch mit so einem starken und interessanten Menschen etwas ganz Besonderes ist.
Aus: Nordwest-Zeitung online (Oldenburg)