Die folgende Rede wurde gehalten am Nachmittag des 9. November 2018 vor dem Mahnmal an der einstigen Synagoge Levetzowstraße in Berlin-Moabit. Diese war als Sammellager für die Deportationen genutzt worden. Jedes Jahr am 9. November findet dort eine Kundgebung und anschließende Demonstration statt. 2018 hielt Horst Selbiger dort eine Rede, die hier komplett dokumentiert wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Kameraden und Kampfgefährten,
meine lieben Freunde,
es ist mir eine große Ehre, heute am 80. Jahrestag der Pogrome von 1938 sprechen zu dürfen.
Die Augenzeugenberichte aus den meisten deutschen Städten ähneln sich. Zumeist beginnen sie:
„Zuerst kamen die großen Ladengeschäfte dran; mit mitgebrachten Stangen wurden die Schaufenster eingeschlagen, und der verständigte Pöbel plünderte unter Anführung der SA die Läden aus.
Fürchterlich wüteten die SA-Horden, unterstützt von SS-Leuten und Hitlerjungen, in den Geschäften und Läden der Juden. Gitter, Rollläden und andere Sicherungen der Geschäftsfronten wurden herausgerissen, Tür- und Schaufensterscheiben eingeschlagen, Auslagen auf Bürgersteige und Straßen geworfen und niedergetrampelt. Auch das Innere der Verkaufsstätten wurde systematisch zerstört. Waren, Vitrinen, Regale, Verkaufstische Kassen, Lampen, Schreib- und Rechenmaschinen wurden zertrümmert. Das Chaos bot massenhaft Gelegenheit auf bequeme Weise zu plündern und zu rauben. Allein in einem Juweliergeschäft in der Prachtstraße Berlins, Unter den Linden, wurden Juwelen und Uhren im Gesamtwert von 1,7 Millionen Mark geraubt. Schmuck und auch wertvolle Pelze gehörten zu dem bevorzugten Diebesgut.
Dann ging es in die von Juden bewohnten Häuser. Wurde auf das Läuten die Wohnung nicht sofort geöffnet, wurden die Wohnungstüren eingeschlagen. Angeblich sollten die Wohnungen nach Waffen durchsucht werden – und dabei wurden die Privatwohnungen von Juden hemmungslos verwüstet.
Möbel, Einrichtungsgegenstände und Hausrat wurden zertrümmert und flogen durch die Fenster auf die Straßen. Gleiches geschah mit Bildern, Kunst- und Kultgegenständen, Büchern, Dokumenten und anderen wertvollen Papieren. Viele der uniformierten Plünderer waren mit Revolver und Dolchen ausgestattet; jede Gruppe hatte die nötigen Einbrecherwerkzeuge wie Äxte, große Hämmer und Brechstangen dabei. Einige SA-Leute trugen einen Brotbeutel zur Sicherstellung von Geld und Schmuck.
Glastüren, Spiegel, Bilder wurden eingeschlagen, Ölbilder mit den Dolchen zerschnitten, Betten, Schuhe, Kleider aufgeschlitzt, es wurde alles kurz und klein geschlagen. Die betroffenen Familien hatten am Morgen des 10. November meistens keine Kaffeetasse, keinen Löffel, kein Messer, nichts mehr. Das schlimmste dabei waren die schweren Ausschreitungen gegen die Wohnungsinhaber, wobei anwesende Frauen oft ebenso misshandelt wurden wie die Männer. Hinzu kam eine unbekannte Zahl von Vergewaltigungen junger jüdischer Frauen und Mädchen.
Am 10. November befahl Hitler, die Juden nun vollends aus der deutschen Wirtschaft auszuschließen.
Um diesen Befehl umzusetzen und das weitere staatliche Vorgehen zu beraten, rief Hermann Göring eine Besprechung ein, die am 12. November im Reichsluftfahrtministerium mit über 100 Teilnehmern stattfand. Die dort beschlossene Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben sollte alle reichsdeutschen Juden weitgehend enteignen, aus dem Kulturleben entfernen, aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verbannen und zur Auswanderung zwingen. Das erklärte Ziel war, das Deutsche Reich „judenfrei“ zu machen.
Die gesamten Versicherungsschäden wurden auf 225 Millionen Reichsmark beziffert. Daher warf Göring dem SS-Führer Heydrich vor: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet noch 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“
Dann schlug Göring vor, den Juden des Reiches eine „Judenvermögensabgabe“ von einer Milliarde Reichsmark als „Sühneleistung“ für „die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ abzufordern. Die Entschädigungen der zahlungswilligen Versicherungen wurden vom Staat beschlagnahmt; betroffene Juden gingen leer aus.
Die Staatspolizei ordnete zudem am selben Tag an, dass Juden die vom 8. bis 10. November entstandenen Schäden im Straßenbild auf eigene Kosten sofort zu beseitigen hätten.
Wie viele Menschen wurden ermordet? Misshandelt? In die KZs gesperrt? Die Nazis sprachen offiziell von 91 Toten. Historiker schätzen heute, dass es fünf-, sechshundert, vielleicht sogar eintausend Tote gab. Noch immer sind die Archive nicht durchforstet.
Auch hier wieder eine offizielle Zahl des NS-Staates: 30.000, ja, insbesondere vermögende Juden, wurden in die KZs verschleppt.
Ja, es gab noch keine Gaskammern, aber wochenlange Einschüchterungshaft, die gab es, und dann standen die Männer im Schlafanzug, eingeschüchtert, verschleppt und misshandelt. Auf den Appell-Plätzen wurden sie mit Wasser begossen und mussten Stunden lang strammstehen.
Und dieses Datum, der 9. November, verbirgt eine Fülle von Ereignissen, die den Verlauf der Geschichte maßgeblich beeinflusst haben.
- Am 9. November 1848 wurde der revolutionäre Anführer der Märzrevolution, Robert Blum, erschossen.
- Am 9. November 1918 riefen nacheinander sowohl Philipp Scheidemann als auch Karl Liebknecht die Republik aus.
- Am 9. November 1923 marschierten mit Hitler und Ludendorff die Nazis in München auf die Feldherrnhalle und versuchten schon damals den faschistischen Putsch.
- Und dann dieser 9. November 1938.
Das Ergebnis dieser Nacht:
1.406 vollständig zerstörte Synagogen, 14 davon allein in Berlin; zerstört wurden 7.500 jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Friedhofskapellen.
So gingen SA-Leute, Hitler-Jungen, Plünderer, Neugierige, Mitkrakeeler, Maulhelden und Schläger in den Novembertagen in ganz Deutschland gegen die Juden vor. Historiker ordnen diese Novembertage so ein, dass nur im finstersten Mittelalter und im Dreißigjährigen Krieg solch vergleichbaren Grausamkeiten und Brutalitäten zu finden gewesen wären.
Vor diesen Novembertagen lagen sechs Jahre Judenhass, Schaukästen des „Stürmers“ mit entsetzlicher Hetze gegen die Juden. Das waren Jahre des Weg-Duckens und der Gewöhnung, der Gleichgültigkeit und der Angst. Diese Novembertage waren nicht das Werk einzelner SA-Leute und einiger Hitler-Jungen.
Nie wird restlos zu klären sein, wie Millionen einzelner Menschen in diesen Sog geraten konnten. Wie für Millionen Schweigen zum Mitwissen und Mitwissen schließlich zum Mitmachen werden konnte. Wie konnte es geschehen, dass sich die deutsche Bevölkerung aktiv an diesen Tagen beteiligte oder tatenlos zuschaute? Und viele sind erleichtert darüber, dass man diesen Tag der Schande und der Schuld heute mit einem fröhlichen Feiertag verbinden kann.
Und so lassen sie jetzt die deutsche Einheit hochleben.
So soll der Tag der Schuld und der Schande in Vergessenheit geraten – wenn wir es zulassen würden.
Menschen, steht endlich auf! Weist diese „Rechten“ in die Schranken!
Noch sind wir die Mehrheit und das sollten wir nutzen.
Und bitte sagen Sie nie wieder:
„Man muss doch darunter mal einen Schlussstrich ziehen können!“
Ich sage Ihnen: Wir können nicht – und wir werden nicht!
Es gibt kein Vergessen – es gibt kein Vergeben!
Und es muss endlich Schluss damit sein, dass die Täter von einst zu Opfern stilisiert werden!
Und das, liebe Freunde, mit den 6 Millionen toten Juden und den über 60 Millionen Toten in ganz Europa durch den Hitler-Faschismus, bezeichnet ein leitender Funktionär dieser widerlichen Partei als „Vogelschiss“.
Bitte helfen Sie uns, Sie alle, dass diese schrecklichen, abscheulichen Untaten niemals vergessen werden – und sagen Sie es weiter: „Wer in der Demokratie schläft, wird in der Diktatur erwachen.“
Faschismus ist keine Meinung –
Faschismus ist ein Verbrechen!