Horst Selbigers deutsches Leben

Einer der letzten Überlebenden der Shoa, der 1928 in Berlin geborene Horst Selbiger, Ehrenvorsitzender der Child Survivors Deutschland, hat als Neunzigjähriger einen Lebensbericht vorgelegt, der sich als weit über den Einzelfall hinausreichende Konfession diametral vom professoralen Papiergeraschel aus zweiter und dritter Hand unterscheidet. Er wächst jüdisch-humanistisch erzogen in einer bildungsbürgerlichen Handwerkerfamilie auf. Seine Mutter ist Christin, sein Vater ein jüdischer Zahntechniker – Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, „deutsch-national mit einem Hang zur SPD“. Die Nazis verwehren dem Jungen die höhere Schulbildung. Seit 1942 muß er sich als Zwangsarbeiter durchschlagen und entgeht nur knapp der Vernichtung.
Hier schreibt ein Kämpfer, „ein Gezeichneter sein Leben lang“, dem mit den Deportationen 1943 die eine große, unvergeßliche und unersetzliche Liebe seines Lebens geraubt wird. Eingehend berichtet er vom Aufstand in der Rosenstraße im Februar 1943, als Nicht-Juden durch tagelange Demonstrationen die Freilassung ihrer dort inhaftierten jüdischen Angehörigen erreichten, aber auch von Verrat oder feigem Taktieren vieler Kirchenleute. Er skizziert Einzelschicksale, die nicht in einfache Schemata passen. Dazu gehört seine Cousine Reta, die einen wegen dieser „Rassenschande“ aus der Partei ausgeschlossenen und später zum Widerstand gehörenden SA-Mann liebt. Sie wird in ein KZ eingeliefert und mißhandelt, kann schließlich durch ein englisches Visum Deutschland verlassen. Den Geliebten sieht sie nie wieder. Joseph Selbiger, ein entfernter rheinischer Verwandter, wechselt 1932 von der SPD zur KPD, emigriert 1935 in die UdSSR, wo er 1937 als angeblicher „Trotzkist“ verhaftet, gefoltert und 1941 von Stalins Richtern hingerichtet wird.
Wesentlich für Horst Selbigers Überleben ist, daß 1944 aus Schludrigkeit oder aus bewußter Mitmenschlichkeit ein Beamter seinen als Ausweis dienenden Ausschließungsschein vom Wehrdienst ohne den Vermerk „Jude“ ausstellt. So entgeht er den Deportationen. Die Bombenangriffe und die lebensgefährlichen Aufräumarbeiten überlebt er ebenso wie eine kurze Zeit in russischer Gefangenschaft als „Soldat und Faschist“. Daß dieser Siebzehnjährige 1945 mit großen Hoffnungen sein neues Leben aufnimmt, zugleich aber angesichts der Judenvernichtung ratlos und verstört ist, versteht sich fast von selbst: „So wuchs in mir ein Panzer aus Narben an Leib und Seele, der immer dichter und horniger wurde.“ Er pendelt zwischen Ost- und West-Berlin, will Deutschland verlassen, bleibt dann aber doch – schon, damit er nicht Hitlers Traum vom judenfreien Germanien erfüllen hilft.
1949 geht er in die eben gegründete DDR, macht innerhalb eines Jahres sein Abitur, studiert, wird Pressereferent beim Nationalrat der Nationalen Front und einer der jüngsten SED- Abgeordneten. Sein journalistischer und politischer Mentor ist der jüdische Widerstandskämpfer und Altkommunist Heinz Brandt (1909-1986). Diese für Selbiger begeisternde und beglückende „Zeit des Aufbaus eines neuen antifaschistischen Deutschlands“ zwischen 1949 und 1951 endet, als der zuvor schon fast entmachtete Ulbricht nach dem 17. Juni 1953 gegen seine Gegner vorgeht. Heinz Brandt, übrigens 1979 an der Seite von Herbert Gruhl einer der Mitbegründer der GRÜNEN, erhält Parteistrafen, flieht 1958 in den Westen, wird 1961 in die DDR entführt und zu 13 Jahren Haft verurteilt. Weltweiter Protest befreit ihn 1964.
Horst Selbiger wird 1953 aus der SED ausgeschlossen, erhält ein lebenslanges Berufsverbot, wird erst 1956 rehabilitiert und wieder im Kulturbereich eingesetzt. Als er 1964 nach Frankfurt geschickt wird, um über den Auschwitz-Prozeß zu berichten, bleibt er in Westdeutschland. Aber er, der sich zu Recht von der DDR „ungerecht und erbarmungslos“ behandelt fühlt, erlebt im „kleineren Übel“ BRD, daß ihm 1965 zunächst jede Entschädigung verweigert wird, da er sich nach 1948 „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung betätigt“ habe. Erst nach langem Prozessieren wird er 1969 als rassisch Verfolgter anerkannt, ihm allerdings die Anerkennung gesundheitlicher Folgen der Zwangsarbeit verweigert.
Dieses Buch ist ein großartiges, beeindruckendes Dokument des Leidens und Widerstehens. Kleine Ungenauigkeiten sind daher ebenso bedeutungslos, wie die angesichts eines solchen Lebens nur zu verständliche gelegentliche Neigung zu von Empörung und Wut diktierten Verallgemeinerungen.

Rolf Stolz